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08.04.2014

Das Dorf ist nicht mehr da

14'000 Arbeitsplätze verloren, aber niemand schreit auf

Das Gastgewerbe hatte seit jeher eine zentrale gesellschaftliche Position und Funktion. Das hat sich komplett verändert.

Die weitgehend vergessenen Philosophen Jean Gebser und Herbert McLuhan behaupteten in den 1950er-Jahren, der traditionelle Staat werde samt seiner zentralen gesellschaftlichen Erscheinungen rasend schnell verschwinden. Die Wiegen der modernen Staaten hatten im 19. Jahrhundert in Gaststätten gestanden. Und der Wirt, der Pfarrer und der Lehrer waren bis tief ins 20. Jahrhundert die tragenden Vertreter im überblickbaren Bereich von Staatlichkeit und der Gesellschaft.

Zwei Generationen später scheint die Geschichte die Philosophen in verschiedener Hinsicht zu bestätigen: Authentische Autoritäten sind zugunsten von anonymen Prominenten verschwunden; Quartiere und Dörfer als Zentren von Konsumtempeln abgelöst. Die Dorfrestaurants stehen noch da, sind aber oft Fassade und entleert – "die Welt ist ein Dorf", hatte McLuhan seinerzeit postuliert.

Aus dem persönlichen Zusammenhang ebenfalls verabschiedet hat sich die Politik: Der Unwille, das Gastgewerbe von der unbestritten diskriminierenden Mehrwertsteuer oder von der Baubewilligungspflicht für Strassencafés zu befreien, verdeutlicht die Distanz beispielhaft. Auch die Folgenlosigkeit dieser politischen Verweigerungshaltung lässt tief blicken – immerhin deutet die Volksinitiative von GastroSuisse den Herrschaften buchstäblich an, dass sie die Rechnung ohne die Wirte machen.

Die prägenden gesellschaftspolitischen Kräfte sind aber eben heute nicht mehr Wirte, sondern Lobbys, Massenmedien und weltumspannende Grosskonzerne. Sie müssen sich über die gesellschaftspolitischen Zerfallserscheinungen auf dem Dorf und im Quartier keine Rechenschaft abgeben. Das Gastgewerbe und das Gewerbe überhaupt hat derweil keine Wahl: "Wenn man sowohl den Unternehmerlohn als auch die Eigenkapitalzinsen berücksichtigt, schreiben rund 60 Prozent der Betriebe rote Zahlen", steht im letzten Branchenspiegel von GastroSuisse zu lesen.

Die meisten gastgewerblichen Unternehmen leben also von der Substanz, und die Wirtschaftswissenschaft hat einen hässlichen Begriff geprägt, um diese Leidensfähigkeit zu benennen: Von "Elastizität" ist nämlich die Rede, wenn Unternehmer trotz widrigsten Bedingungen weiterfahren – womöglich weiterfahren müssen, weil sie es sich gar nicht leisten können aufzuhören.

Das hätte das Zeug zum Skandal, heutzutage wird in solchen Fällen laut aufgeschrien: Verletzung von Arbeitsgesetzgebungen und Menschenrechten, Ausbeutung, Sklaverei. Aber in diesem Fall schreit niemand auf. Denn einerseits fehlt der Apparat, der den Skandal für die Medien appetitlich aufbereitet, andererseits jammern Kleinunternehmer organisiert nur unwillig und ungenügend. Und nicht zuletzt ist die Selbstausbeutung von KMU von der Arbeitsplatzsicherung bis zur Mehrwertsteuerabrechnung staatstragend – eine himmelschreiende Ironie der Geschichte.

Aber niemand schreit auch dann auf, wenn überhaupt nichts mehr geht. Der dazugehörige Begriff, der ebenfalls Menschen ausblendet, heisst "Strukturbereinigung". Laut Bundesamt für Statistik hat das Schweizer Gastgewerbe allein zwischen Herbst 2010 und Herbst 2013 volle 14'000 Arbeitsplätze eingebüsst.

Die verzerrte Wahrnehmung des Skandalösen ist in diesem Zusammenhang auch von tragischer Richtigkeit: Die wackelige Wirklichkeit des gewerblichen Alltags, das ständige Ringen um die Existenz ist nämlich insgesamt nicht skandalöse Ausnahme, sondern Alltag. In seinem ausserordentlichen Buch "Der Schwarze Schwan" hat der Finanzmathematiker und Philosoph Nassim Nicholas Taleb diese alltägliche Unwägbarkeit 2007 eindrücklich thematisiert (siehe unten).

Zwar spricht Taleb von grossen Unternehmen und der grossen Wissenschaft. Ihnen schreibt er ins Stammbuch, was für Gewerbebetriebe selbstverständlich ist: Man muss ständig mit dem Schlimmsten rechnen und das Beste hoffen. Tüchtigkeit und Professionalität sind dabei notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen. Denn die Unwägbarkeiten des Lebens können im Guten wie im Schlechten ständig eintreten und extrem ausschlagen. Das Extrem ist dabei der "schwarze Schwan", mit dem niemand rechnet, den niemand für möglich hält, den es aber trotzdem gibt.

Gewerbe und Landwirtschaft wissen seit jeher um schwarze Schwäne und ihre Macht. Andere Branchen blenden sie jedoch systematisch aus – und je grösser die Branchen sind, desto schlechter sind sie auf die schwarzen Schwäne vorbereitet. Sie bewältigen die entsprechenden Unwägbarkeiten vor allem dadurch, dass sie im Falle eines Falles die Allgemeinheit zur Kasse bitten.

Die letzte Finanzkrise oder Fukushima sind die jüngsten Beispiele fürs Auftauchen von gigantischen schwarzen Schwänen. Und den Umgang mit den schwarzen Schwänen verdeutlichen das hemmungslose Drucken von Geld, um Schulden zu verflüssigen, oder Stützungsmassnahmen für Unternehmen, die zu gross zum Scheitern sind.

Einen besonderen Umgang mit schwarzen Schwänen pflegen auch Dienstleister, seien sie nun korporatistischer oder staatlicher Natur. Sie sind für die Unwägbarkeiten völlig blind. Umso bezeichnender und schlimmer, dass ausgerechnet die Dienstleister die bizarre Vorstellung vom Büroalltag als wirtschaftlicher Norm prägen. Unvergessen bleibt zum einen die Schwierigkeit, selbstverständliche gastgewerbliche Arbeitszeiten gesetzlich festzuschreiben. Eindrücklich erscheint zum anderen, wie staatliche Bürokratien im 20. Jahrhundert vielerorts Apparate gebaut haben, die ausgerechnet die extrem ausgesetzte Landwirtschaft von schwarzen Schwänen abschirmt.

Das Gastgewerbe bleibt derweil ausgesetzt und zahlt in der Schweiz durch die Frankenstärke überdies einen extremen Preis für die Stützungsmassnahmen von gigantischen Verlierern in Europa und den USA. Das Bewältigen der Finanzkrise von 2008 hat etwa das gekostet, was die Welt in einem Jahr erarbeitet: umgerechnet rund 70'000'000'000'000 Franken, das entspricht etwa 1000 Jahresbudgets der Eidgenossenschaft.

Die weitere, zugleich traurige und tröstliche Ironie der Geschichte: Unwägbarkeiten prägen die Existenz ebenso sehr wie kleine, überblickbare Welten. Das Gewerbe, zumal das Gastgewerbe mit seinen ganz alltäglichen Freuden und Leiden, steht mitten im Leben, ganz im Gegensatz zu all den grossspurigen Blendern. "Wir müssen Komplexität durch Einfachheit ausgleichen", rät denn auch Taleb. Mit anderen Worten könnten wir am Gewerbe genesen; vielleicht wäre so sogar der Staat zu retten.

Peter Grunder / GastroJournal


Grössere und kleinere Risiken im Grossen und Kleinen

Nassim Nicholas Taleb stammt aus einem Dorf in der Levante, machte viel Geld als Broker in New York und schrieb sich mit dem Buch "Der schwarze Schwan" seine wirtschaftlichen, akademischen und philosophischen Erkenntnisse sozusagen von der Seele. Das Buch ist anspruchsvoll und umfangreich, steckt voller scharfsinniger Analysen, philosophischer Erläuterungen und teils sarkastischer, teils humoristischer Einlagen. Allerdings ist die Sprache nicht wissenschaftlich und hochtrabend, sondern saftig und bilderreich. Hat man Musse und ist bereit, Gedankengängen weit zu folgen, wird die Lektüre ein erhellendes Vergnügen. Das Buch ist im Fachverlag von GastroSuisse (gastrobuch.ch) erhältlich.

Die Dorfrestaurants stehen noch da, sind aber oft Fassade und entleert. Peter Grunder / GastroJournal


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