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24.01.2024
Reisen zum Vergnügen
Vor 250 Jahren eröffnet das erste Grandhotel
Läuse, Bettwanzen und Grüsel-Essen: Bis Ende des 18. Jahrhunderts war Reisen in Europa beschwerlich. Das änderte sich 1774 mit dem ersten Grandhotel in London. Die Idee von Luxus gibt es bis heute.
sda dpa. Ein warmer Ziegelstein im Daunenbett und eine Schüssel wohlriechenden Wassers auf dem Zimmer: Für Reisende ist das im ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa purer Luxus. Mit erdacht hat dieses Wohlgefühl seinerzeit der Perückenmacher David Low, der am 25. Januar vor 250 Jahren in London ein «Grand Hotel» eröffnete. Das Haus in der King Street am Covent Garden gilt als die erste Luxusherberge unter diesem Namen.
Für seine Geschäftsidee lauscht Low der Legende nach beim Frisieren seiner vermögenden Kundschaft, die sich über Läuse, Bettwanzen und stinkende Aborte in Gasthöfen echauffierte. Low ist damals wohl das, was heute Trendsetter heisst: Um 1800 beginnt in Europa eine Ära, in der das Reisen langsam wieder zum Vergnügen wird - wenn auch noch lange nicht für jedermann.
«Alle Welt reist», notiert der Schriftsteller Theodor Fontane ein Jahrhundert nach David Low. «So gewiss in alten Tagen eine Wetterunterhaltung, so gewiss ist jetzt eine Reiseunterhaltung.»
Es ist eine Passage, die den Soziologen und Historiker Hasse Spode zum Schmunzeln bringt. «’Alle Welt’ entsprach natürlich nur Fontanes eigenen gehobenen Kreisen», sagt der Leiter des Berliner Historischen Archivs zum Tourismus. Dennoch ist Fontanes Reiseplauderei ein Indiz dafür, in welchem Tempo sich Vergnügungsreisen nach der «Grand Tour» des Adels – einer Art standesgemässer Bildungsverpflichtung – im 19. Jahrhundert auch im Bürgertum durchsetzen. Reisende, das waren bis in die Zeit der Weimarer Republik höchstens zehn Prozent der Bevölkerung, schätzt Spode.
Reisen war unbequem und gefährlich
So selbstverständlich wie heute ist Reisen lange Zeit nicht. «Wer nicht unterwegs sein musste, liess das lieber», ergänzt Spode. Er geht davon aus, dass vor allem im Mittelalter weniger als ein Prozent der Bevölkerung freiwillig unterwegs war. Denn mit dem Untergang des Römischen Reichs bricht auch die einst vorzügliche Verkehrsinfrastruktur zusammen. «Es gab kaum befestigte Strassen, noch weniger Brücken und auch keine gefederten Kutschen mehr», ergänzt er.
Dazu ist Reisen damals gefährlich. Im Wald, da sind die Räuber – das ist bis ins späte 17. Jahrhundert weder ein Witz noch ein Märchen. «Erst um 1800 brachen in Europa friedlichere Zeiten an», berichtet Spode. Postkutschen fahren regelmässig und bald gibt es wie zur Römerzeit alle 30 bis 50 Kilometer einen Gasthof für den Pferdewechsel mit einer Übernachtungsmöglichkeit.
Dem Geschmack der vermögenden Reisenden entsprechen die simplen Unterkünfte und gemeinsame Mahlzeiten mit dem einfachen Volk wenig. «Es gab den Ratschlag, sich zu bewaffnen und Vorhängeschlösser für die Zimmer mitzunehmen», sagt Spode.
Er hält es für glaubwürdig, dass David Low in dieser Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts den Begriff Grandhotel erfunden hat. Denn in den Städten entstehen damals immer mehr unbefestigte Adelspalais mit grossen Fenstern, die auf Französisch «hôtel» heissen. Low mietet solch ein Haus, lässt es umbauen und verschuldet sich dabei wohl zu hoch. Trotz seiner guten Geschäftsidee soll er in Armut gestorben sein.
Blütezeit der Grandhotels
Das Londoner Palais steht noch heute und beherbergt im Moment eine Luxus-Kosmetikmarke und sündhaft teure Apartments. Auch Lows Wortschöpfung für eine luxuriöse Unterkunft überlebt. Grandhotel – dieser Begriff steht schnell für Neubauten mit einer gewissen Grossartigkeit.
In der Schweiz gilt das 1845 eröffnet Hotel Schweizerhof als eines der ersten Grandhotels. Es repräsentierte den Anfang der touristischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt am Vierwaldstättersee. Die Belle Époque gilt als Blütezeit der Grandhotels.
Nach dem Vorbild von Palastgebäuden hoben sich die Grandhotels durch ihre Grösse und ihre Opulenz von herkömmlichen Hotels ab und erinnerten an die Wohnstätten der Aristokratie. Zu ihren Merkmalen gehörten Fassaden mit üppigen Verzierungen, hohen Fensteröffnungen und breiten Balkons, aufwendig gestaltete Dächer im Gotik- oder Barockstil und monumentale Treppenanlagen. Moderne Personenaufzüge erlaubten ein höheres Bauen auf fünf Etagen oder höher.
Zu den Annehmlichkeiten gehörten damals auch eine Gourmetküche, erstmalig fliessend warmes und kaltes Wasser auf den Zimmern und bisweilen ein eigenes Bad und WC. Das war mehr Komfort als in vielen Schlössern dieser Zeit.
Grandhotels gelten unter Experten auch als Ort einer kleinen Revolution in der hierarchisch gegliederten Ständegesellschaft. Denn dort öffneten sich die Klassenschranken, Adel und gut betuchtes Bürgertum logierten gemeinsam.
Grandhotels mit ihren Ballsälen, Bädern und Gärten werden zu einem Zentrum des gehobenen gesellschaftlichen Lebens, zum Ort für Geschäfte, Sehen und Gesehenwerden, Klatsch und Tratsch und auch so manchen kriminellen Akt. Das Hotel als faszinierende Bühne hinterlässt bald auch Spuren in der Literatur – im Hotelroman. Im 20. Jahrhundert folgen Kinofilme und TV-Serien.
Reiseangebot hat sich wenig verändert
Tourismusforscher Spode kann gut beschreiben, wie Grandhotels bis heute einen gekonnten Spagat hinlegen: «Sie schaffen es, dem Gast auch bei Hunderten von Zimmern Individualität und Fürsorge vorzuspielen – in Wirklichkeit ist es ein industrialisierter Betrieb wie eine Fabrik.» Techniker, Köche oder Zimmermädchen bleiben oft im Verborgenen.
Spode nennt die reichen Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts «Touristenklasse». Mit neuer Infrastruktur wie der Eisenbahn sei für sie ein anderer Lebensrhythmus entstanden – mit Sommerfrische und Winterquartier. Das Angebot habe sich bis heute weitgehend gehalten: Strand oder Berge, Abenteuer oder Entspannung, gern auch mal Kunst gucken. Wobei es dafür auch andere Quartiere gibt als ein Grandhotel.
Der Erste Weltkrieg ist ein jäher Einschnitt in dieser Erlebniswelt. Grandhotels scheinen damals aus der Zeit zu fallen. Die Idee von «Urlaub» setzt sich langsam in breiteren Gesellschaftsschichten durch.
Ulrike von Leszczynski / dpa
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